Monday, April 24, 2006

Geweiharchiv

meine Eltern schlugen häufig das Buch
der leisen Streite auf. meist ging ich
in einem solchen Fall mit einem
der drei Hunde meiner Kindheit spazieren.
sie jaulten ganze Idyllen zusammen.
die Schwester spielte Großmutter und hörte
schlecht. die Großmutter selbst hörte gut,
galt aber praktisch als ständig verreist in die Welt
der Walzer. Großvater war bereits
sein eigenes stilles Buch. man las es
aus Fotoalben zusammen. das waren Nachmittage
schwer und verraucht wie die Brokatvorhänge
der guten Stube. grünkohlgrün mit goldener Borte:
jeder Gast lobte die Wahl, dann den Likör.
Besuche waren Friedensfahrten, man übte
Philanthropie und Freiheit: hier spielten Geweihe
die Rolle der Großen Vorsitzenden an der Wand.
nach der Schule begann das Bewusstsein
als Testbild (zweites Programm), es beruhigte,
wenn die Schwester einen ihrer Pickeltode starb
oder Großmutter den Plattenspieler
auf Tango beschleunigte. ich erntete Kleingeld
von ihr, für meine Geduld, und Pralinen.
erst verabscheute ich sie, später waren sie mir
die süßen Zweigstellen des Stammbaums.
sie ließen die Zunge fliehen.

Ron Winkler

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